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Kulturparade 2020

1. Januar 2021

Bernhard Blöchl

Das alte Jahr weht dahin, das neue lauert listig. Listen helfen beim Aufräumen, sie sind die Marie Kondō des Schreibens. Auf Lieblingssaetze.de, meinem 2011 eröffneten Museum der schönen Sätze, bringe ich Lieblingsbücher und Lieblingsplatten in eine subjektive Reihenfolge. Alle Jahre wieder. Hier meine erweiterten Kulturcharts 2020 mit den besonders wirkungsvollen Werken, angereichert mit Lieblingsfilmen und -serien, den (wenigen) Lieblingskonzerten und außergewöhnlichen Lieblingsprojekten in diesem irren Jahr.

Lieblingsbücher 2020
  1. Stefan Wimmer: Die 12 Leidensstationen nach Pasing
  2. Yvonne Hergane: Die Chamäleondamen
  3. Leif Randt: Allegro Pastell
  4. Heinrich Steinfest: Der Chauffeur
  5. Oliver Uschmann: Lost Levels. Hartmut und ich schlagen auf
  6. Nick Hornby: Just Like You
  7. Rudolf Ruschel: Ruhet in Friedberg
  8. James Gould-Bourn: Pandatage
  9. Nick Hornby: Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst
  10. Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen

Literarisches Sachbuch des Jahres

Außer Konkurrenz, gleichwohl die größten Herzensangelegenheiten: die Buchveröffentlichungen meiner Liebsten bzw. ihrer Alter Egos

  • Lea Coplin: Für eine Nacht sind wir unendlich
Lieblingsbücher 2020 (die nicht 2020 erschienen sind)
  1. Vicki Baum: Vor Rehen wird gewarnt (1951)
  2. Joachim Meyerhoff: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (2015)
  3. Vicki Baum: Menschen im Hotel (1929)
  4. David Nicholls: Sweet Sorrow (2019)
Lieblingslesung 2020
  • Klappstuhllesung am 14. August 2020 mit Astrid Ruppert, Lea Coplin/Anne Sanders und mir in Homberg an der Ohm in Hessen. Mit der höchst charmanten und corona-konformen Open-Air-Veranstaltung durfte ich zugleich mein Zehnjähriges feiern: zehn Jahre literarisches Schreiben, zehn Jahre Lesungen
Lieblingsplatten 2020
  1. Bright Eyes: Down In The Weeds, Where The World Once Was
  2. Travis: 10 Songs
  3. Pearl Jam: Gigaton
  4. Nothing But Thieves: Moral Panic
  5. Bill Callahan: Gold Record
  6. Bob Dylan: Rough And Rowdy Ways
  7. The Strokes: The New Abnormal
  8. The Smashing Pumpkins: Cyr
  9. Dolly Parton: A Holly Dolly Christmas
  10. Green Day: Father of all Motherfuckers
Lieblingskonzerte 2020
  1. Heinz aus Wien, Milla (24.1.)
  2. Deichkind, Zenith (20.2.)
  3. Enik, Import Export (22.2.)
  4. 3 Jahre Bud Spenzer Heart Chor, Giesinger Bräu (23.1.)
Lieblingsfilme 2020
  1. Jojo Rabbit
  2. Und morgen die ganze Welt
  3. Lindenberg! Mach dein Ding
  4. 3 Engel für Charlie
  5. Little Women

Netflix-Überraschung: Isi & Ossi
Lieblingsdokus: For Sama, Walchensee Forever, Was tun?
Festival-Überraschungen: Toprak, Jackpot

Lieblingsserien 2020
  1. The Marvelous Mrs. Maisel (Staffel 3)
  2. Pastewka (Staffel 10 und Schluss)
  3. The Queen’s Gambit
  4. Emily In Paris
  5. The Undoing
  6. Modern Family (Staffel 11 und Schluss)
  7. Stichtag
  8. The Last Wave
  9. ÜberWeihnachten
  10. Dash & Lily

Dauerbrenner: Shaun das Schaf, Stromberg
Spät entdeckt: Designated Survivor (Staffel 1)

Bonus: Lieblingsprojekt 2020: Verse versus Virus

Mit der Ausgangsbeschränkung im Frühling 2020 kam die Idee: Gedichte zur Verarbeitung der Coronakrise. Die Welt, wie sie gewesen war, bröselte dahin. Der Soft Reset brachte so unfassbar viel Neues. Schlimmes, Bizarres, Lustiges, Schönes. Jeder Rausch an Input braucht einen Output. Einen Kanal, am liebsten einen künstlerischen. Ein Tagebuch in Versen? Poesie für den Seelenfrieden? Quarantänenquatsch? Von allem ein bisschen. Vor allem aber waren „Verse versus Virus“, so der Titel der Reihe auf Facebook und im Blog, ein Experiment. Eine  Morgenroutine für den Schreibflow. Meine Annäherung an die Lyrik. Im Rhythmus der Verschmitztheit. 86 Gedichte sind zwischen 23. März und 16. Juni entstanden. Die Gedichte, mal schelmisch, mal ernst, teils autobiografisch, teils fiktiv, spiegeln meine subjektive Stimmung wider und  all die Schwankungen und emotionalen Veränderungen in dieser irren Zeit. Idealerweise sind die Texte deshalb chronologisch zu lesen. Hier meine Lieblingsgedichte:


Der Duft vorbeiwehender Frauen

Er roch so gern
den Duft
vorbeiwehender Frauen.

War süchtig
nach der Wolke
der Unerreichbaren.

Distanz ist nun
die neue Nähe.
Abstand halten schmeckt ihm nicht.

Er bricht 
die Regel,
um den Hauch zu spüren.

Doch statt Chanel
liegt in der Luft 
nur Angst und zu viel Seife.


Kurvendiskussion

Er sagt,
die Kurven flachen ab.
Das sei
ein gutes Zeichen.
Sie sagt,
wieso,
ich seh doch aus wie immer.


Begegnungen sind Schachpartien

Er hat verlernt,
den Blick zu halten.
Menschen sind
ihm sonderbar.
Wohin nur schauen,
wann ein Lächeln,
Begegnungen sind Schachpartien.

Was selbstverständlich
einst erschien,
verkümmert stumpf
in Quarantäne.
Social Distancing ist lau,
der Weg zurück
ist Champions League.


Die äußere und innere Leere des Ernst Litfaß

Litfaßsäule,
ach du leere,
nackt hab ich
dich nie gesehen.
Dein Bauch ist blank
und weiß und rund.
entblättertes Schweigen,
dreht sich nix. 
Kein Protzen für 
die besten Filme,
größten Shows
und geilsten Gigs.
Kultur, sie fehlt
an allen Orten.
Erinnerung
ist Overkill.
Litfaßsäule,
ach du schöne,
warst optisch oft
der letzte Schrei.
Dein Körper braucht,
wie Bücher Läden,
Collagenkleider,
plakative. 


Tief ins Glas geschaut

Er sitzt allein und schaut ins Glas.
Dunkle Gedanken beim fünften Hellen.
Schaum des Lebens verweilt nur kurz,
aufsteigende Hoffnung, sprudelndes Glück. 
Verschwommene Träume in schlierendem Gelb.
Das Jetzt ist lack, die Zukunft schal.
Im Norgerl ersäuft der Rest der Chance,
Ängste längst schon abgestanden.
Zu müde, um ins Bett zu gehen.
Er sitzt allein und schaut.


Die siegessichere Fanfare verbitterter 
Trompetenpfifferlinge

Wann hat zuletzt
einer
die Weichheit
einer amerikanischen Waldkatze
mit dem Griff
in eine Tüte Mehl
verglichen
und musste dabei
vor Glück laut lachen?
Wann hat zuletzt
jemand
den Schwung
frisch geküsster Augenbrauen  
mit Triumphbögen
von Utopia
verglichen 
und konnte dabei
vor Freude nichts sagen?
Stattdessen reden
alle
über ein Virus,
das aussieht
wie eine
unförmige Styroporkugel
mit bitteren
Trompetenpfifferlingen
und schmeckt
wie trockener Husten
von vorgestern.
Schöner Scheiß!


Angst in Scheiben

Wochen fliegen,
ach, schon Mai?
Pläne biegen, 
vielerlei.
Zeit wie Gummi,
Gefühle zäh, 
Quarantänenflummi,
Ende jäh.
Träume ruckeln,
Streaming mau,
Hoffnung nuckeln,
Magen flau.
Tage treiben,
Sommer, fast, 
Angst in Scheiben
Dauergast.


Treueschwur des Optimisten

Als wären wir neu
in diesem Leben,
nichts ist,
wie es früher war.
Sind doch treue Seelen,
eben,
morgen wird
ganz wunderbar.


Wissen, wie du sie vergisst

Aus den Träumen kriecht die Angst,
zurück in dunkle Ecken,
um zu lauern, bottes Kauern,
ihr Verlangen ungebremst.
Sie kennt den Weg in deine Seele,
dockt an Krater an, die rauen,
um zu bohren, auserkoren,
ihre Kraft gar unmenschlich.
Nur eines hasst sie wie das Glück:
dein Wissen, wie du sie vergisst.  

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