Mit der Ausgangsbeschränkung kam die Idee: Gedichte zur Verarbeitung der Coronakrise. Die Welt, wie sie war, bröselt dahin. Der globale Soft Reset bringt so unfassbar viel Neues. Schlimmes, Tragisches, Bizarres, Lustiges. Jeder Rausch an Input braucht einen Output. Einen Kanal, am liebsten einen künstlerischen. Ein Tagebuch in Versen? Poesie für den Seelenfrieden? Aufschreiben, was einen auffrisst? Quarantänenquatsch? Vielleicht von allem ein bisschen. Vor allem aber sind „Verse versus Virus“ ein Experiment. Eine Morgenroutine für den Schreibflow. Meine Annäherung an die Lyrik zur Stärkung meiner Prosa. Im Rhythmus der Verschmitztheit. Voilà, Woche sechs.
Hoffnungsschimmer im Breitwandformat
(270420) In den Köpfen der Menschen läuft ein Film,
Überlänge schon seit Wochen.
Ein Thriller ohne Superheld,
der Gegenspieler unsichtbar.
Der Plot ist lahm, leere Worte im Skript,
auch Score und Look ein Trauerspiel.
Kein Glamour nirgends, kein Sex, kein Crime,
von Aura alle sehr befreit.
In den Kinos der Menschen läuft kein Film,
geschlossen nun schon seit Wochen.
Gutschein hier, Spende da,
Hoffnungsschimmer im Breitwandformat.
Couragierte Slogans an toten Fassaden:
„Corona, geh scheißen – Klopapier ist alle“.
Woanders heißt es wie im Gedicht:
„Cinema closed until real life
doesn’t feel lika a movie anymore.“
Ja, ich will doch nicht
(280420) Die Hochzeit war schon lang geplant,
Fridas Glück in Tüll und Seide.
Meide nun die Gästeschar,
Hajos Glück in kleinem Kreise.
Leise plant sie alles neu,
Fridas Schmerz ein Tränenmeer.
Allzu schwer fällt ihm das nicht,
Hajos Schmerz das Gegenteil.
Weil sie nun erkennt im Streit,
Fridas Herz ein Grand Hotel.
Schnell verliert er Mut und Nerven,
Hajos Herz ein Motel One.
Ron hat es ihr prophezeit,
Fridas Liebe gehört nur einem.
Keinem, der sie nicht versteht,
Hajos Liebe gehört verboten.
Die siegessichere Fanfare verbitterter Trompetenpfifferlinge
(290420) Wann hat zuletzt
einer
die Weichheit
einer amerikanischen Waldkatze
mit dem Griff
in eine Tüte Mehl
verglichen
und musste dabei
vor Glück laut lachen?
Wann hat zuletzt
jemand
den Schwung
frisch geküsster Augenbrauen
mit Triumphbögen
von Utopia
verglichen
und konnte dabei
vor Freude nichts sagen?
Stattdessen reden
alle
über ein Virus,
das aussieht
wie eine
unförmige Styroporkugel
mit bitteren
Trompetenpfifferlingen
und schmeckt
wie trockener Husten
von vorgestern.
Schöner Scheiß!
Nicht nur überleben, sondern wie
(300420) Im Dunstkreis der Seuche
schlägt die Stunde der
Zahlenfreaks.
Billionen, von denen
niemand einen Schimmer,
sprudeln potent
aufgrund
addierter Prognosen.
Wahrscheinlichkeiten diktieren
den Takt der Mündigen.
Großes Konzert,
crescendo, Applaus!
Statistiker bin ich
nie gewesen,
aber deuten kann ich
die Handschrift derer.
Zahlen sind nüchtern,
Wörter Gefühl.
Nüchtern ist
für herzlose Zauderer.
Gefühle sind für die,
die nicht nur überleben,
sondern wie.
Was fehlt
(010520) Was fehlt
ist das Gefühl am Morgen,
nicht zu wissen,
mit wem am Abend
beim Schnitt nach dem vierten Bier
die tausendste Schnapsidee
du erspinnst
und dich wie ein Kind
auf das Scheitern freust,
das kolossale.
Was fehlt
ist der Duft der Dämmerung,
der das Fernweh nährt,
diesen windigen Sog,
der einst und immer wieder,
freiheitsliebend unbedingt,
zum Aufbruch motiviert,
hinein mit aller Kraft voraus
in ein Abenteuer,
das nicht passiert.
Was fehlt
ist der Geschmack am Abend,
wenn Salz vom Meer herüberweht,
auf der Oberlippe sich entschließt,
zu faulenzen so wie du, bevor,
mit der Zärtlichkeit
der inneren Ruhe
du eben diese Lippen küsstest,
im Tagtraum,
immerhin.
Was drängt
(020520) Das einzig Spannende an der elendigen Kurve ist das Abflachen
des Interesses. Linear verlief die Wucht der Sorge,
exponentiell verlief der gallige Thrill.
Die Menschen sterben weiterhin,
was aber drängt, ist die Frage,
wohin darf ich noch
in Urlaub?
Echt
jetzt
?
Neulich im Video-Chat, Teil eins
(030520) Er sagt, ich bin ein Dauerbrenner.
Wenn ich einmal Feuer gefangen habe,
bin ich dir auf ewig treu.
Sie sagt, du willst doch nur Sex.
Er sagt, wie kommst du denn darauf?
Sie sagt, wegen Zündschnur und so.
Er verlässt den Chat.
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